„Vernichtungsapparat mit festen Dienstplänen“

Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938 in Lauterbach zum Thema des Frankfurter Auschwitzprozesses.

Aus dem Lauterbacher Anzeiger vom 13.11.2015

1965, vor nunmehr fünf Jahrzehnten, endete der erste von insgesamt sechs Strafprozessen gegen Täter im nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, die in Frankfurt am Main stattfanden. Der „Auschwitzprozess“, zustande gekommen auf maßgebliche Initiative des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, fand unter großem Medieninteresse statt.

Im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe zum Gedenken an die antijüdischen Novemberpogrome 1938 hatte ein breites Aktionsbündnis eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema in der Aula des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Lauterbach organisiert. Neben Werner Renz als Vortragender vom Fritz-Bauer-Institut Frankfurt am Main berichtete mit Gerhard Wiese ein Zeitzeuge. Er war einer von drei Staatsanwälten, die 1962 als junge und – im Gegensatz zu vielen ihrer älteren Kollegen – politisch unbelastete Juristen mit der Vorbereitung des Prozesses unmittelbar befasst waren. Nachdem zuvor bereits unter anderem im Lichtspielhaus Lauterbach eine Vorführung des 2014 veröffentlichten Films „Im Labyrinth des Schweigens“ über die Vorgeschichte der Auschwitz-Prozesse stattfand, konnten rund 280 Schülerinnen und Schüler der Gymnasien in Lauterbach und Alsfeld vor Ort Geschichte aus eigener Anschauung erfahren.

Ausgerichtet wurde die Veranstaltung von den Kinder- und Jugendparlamenten der Stadt Lauterbach und des Vogelsbergkreises, dem Förderverein zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg, dem Kulturverein Lauterbach, dem Kreisjugendamt, dem evangelischen Dekanat Vogelsberg, der katholischen Kirchengemeinde Lauterbach, und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.

In seinem Vortrag gab Werner Renz zunächst einmal einen Überblick über das Geschehen in Auschwitz: „Ab 1942 arbeitete hier ein eingespielter und bürokratisch genauestens organisierter Vernichtungsapparat nach festen Dienstplänen. In einem Zeitraum von etwa 900 Tagen fanden 600 Transporte mit einer Million Menschen statt, die zum allergrößten Teil unmittelbar nach ihrer Ankunft durch Vergasung ermordet wurden.“

Am Beispiel von vier im ersten Prozess 1963 bis 1965 angeklagten KZ-Ärzten zeigte Werner Renz auf, mit welcher Vehemenz die vor Gericht stehenden Täter die Verantwortung für ihre Taten von sich wiesen. Bei ersten Vernehmungen sei jegliches Wissen über den Massenmord geleugnet und schließlich nur das zugegeben worden, was den Angeklagten durch Beweise vorgelegt werden konnte. Den Anwälten sei zugutegekommen, dass sie sich im Verlauf ihrer Ermittlungen und der Prozessvorbereitung ein gründliches Wissen über die Abläufe in Auschwitz angeeignet hatten und die Angeklagten damit konfrontieren konnten. Eine gängige Schutzbehauptung der Angeklagten sei der „Befehlsnotstand“ gewesen, nach dem denjenigen SS-Männern, die eine Beteiligung an den Morden verweigerten, schwere Bestrafungen bis hin zur Hinrichtung gedroht hätten. Gerhard Wiese und seine Kollegen hätten hingegen bereits damals nachweisen können, dass dies nicht der Fall gewesen war.

Eine besondere Herausforderung habe auch die Rechtsordnung in den 1960er Jahren dargestellt, wonach die Staatsanwaltschaft den Angeklagten den Tatvorsatz im Einzelfall habe nachweisen müssen. Aufgrund dessen hätten die meisten der Angeklagten nur wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord verurteilt werden können. Ein Umdenken bei den Prozessen gegen die letzten noch lebenden NS-Täter sei erst seit dem Jahre 2011 erfolgt. Seither gehe die Justiz von dem Grundsatz aus, dass bereits die bloße Tätigkeit in einem Vernichtungslager unmittelbar zum Massenmord beigetragen habe.

Wie Werner Renz betonte, sei es Fritz Bauer als Initiator des Prozesses nicht allein um eine juristische Sühne der in Auschwitz begangenen Verbrechen gegangen. Vielmehr habe er die politische Aufklärung der deutschen Gesellschaft im Blick gehabt und deutlich machen wollen, dass die NS-Verbrechen kein „Betriebsunfall“ seien, sondern vielmehr das Ergebnis eines Sonderwegs autoritären Denkens in der deutschen Geschichte.

Im zweiten Teil der Veranstaltung hatten die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, sich mit ihren Fragen direkt an Gerhard Wiese zu wenden und machten von dieser Möglichkeit regen Gebrauch. So schilderte der Zeitzeuge, mit welchen Schwierigkeiten die Vorbereitung des Prozesses zu Beginn der 1960er Jahre verbunden war. Seinerzeit habe es noch nicht die technischen Möglichkeiten gegeben, wie sie heute vorhanden seien. Die 700-seitige Anklageschrift habe mit der Schreibmaschine Seite für Seite abgetippt werden müssen. Zur Vervielfältigung dienten Matrizen, welche anschließend von Hand zusammengesetzt wurden. Die Prozessakten bestanden aus über 70 Ordnern. Bei den Ermittlungen habe man sich teilweise auf vorhandene Dokumente aus der NS-Zeit stützen können, wozu auch die Transportlisten der Deportationstransporte gehörten. Eine wichtige Hilfestellung habe das von KZ-Überlebenden gegründete Internationale Auschwitz-Komitee gegeben, über das Zeugen ausfindig gemacht und befragt werden konnten.

Aktuelle Bezüge wurden bei der Frage deutlich, ob die heutige Justiz genug gegen neue Nazis tue. Gerhard Wiese hob hervor, „dass wir in einem liberalen Rechtsstaat lebten, selbst wenn sich im Zweifelsfall auch Neonazis auf diesen berufen können“. Die Verschärfung des geltenden Rechts könne ein zweischneidiges Schwert sein. Viel wichtiger sei eine aktive Zivilgesellschaft.